Und, welche Rollen spielst Du heute?
Wir wachsen auf mit der Gewissheit, eine bestimmte Person zu sein. Wir sind groß oder klein, sportlich, lustig, gut drauf, mutig oder feige, Angestellter oder Lehrer, reich oder arm, freundlich oder doof. Wir haben ein, zwei Namen, kommen irgendwoher und sind Fan eines bestimmten Vereins. Wir sind Fernsehgucker, Saunauntensitzer, Opelfahrer und Wettervorhersageglauber.
Als kleines Kind wissen wir nicht einmal bewusst, dass es uns gibt. Meine einjährige Tochter Nele sagte immer “Du” und meinte sich damit selber. Klar nannte sie sich “Du”, schließlich sprechen wir sie auch mit “Du” an. Nach einer kurzen Zeit lernt das Kind dann ein Konzept von sich selbst- es wird eine Person.
Der Begriff “Person” stammt eventuell ursprünglich von “per sonare” ab, das bedeutet durchtönen. Schauspieler trugen früher öfter Masken, durch die deren Stimmen bis ins Publikum zu hören waren. Ob diese Erklärung komplett stimmt, ist nicht so wichtig, denn alle weiteren Erklärungen des Wortes “Person” stammen von Vorläufern des Wortes “Maske” ab.
Wir legen uns also jeden Morgen Masken an und spielen verschiedene Rollen. Als Person sind wir also zuletzt- Schauspieler.
Du trägst eine Maske. Erkennst Du Dich dahinter?
Unser komplexes Dasein verlangt eine ganze Reihe von verschiedenen Rollen, die wir bitteschön auszufüllen haben. Vom engagierten Familienvater, dem Hobby-Sportler, Liebhaber, erfolgreichem Mitarbeiter bis hin zum verständnisvollen Kumpel: Was da von uns verlangt wird, ist gar nicht so wenig!
Im Krankenhaus ist die Rollenverteilung besonders ausgeprägt. Ich habe mir angewöhnt, den Klinikalltag wie ein aufwändig inszeniertes Theaterstück zu sehen, das mir zu Liebe jeden Tag aufgeführt wird. Natürlich haben wir viele Rollen zu besetzen und müssen jeden Tag dutzende interessante Szenen zusammen spielen. Und das alles ohne langes Proben!
In meinem Theater ist eine Sache komplett anders als in allen anderen Schauspielhäusern:
Meine Lieblingsschauspieler sind die, die besonders schlecht spielen. Ja, Du hast richtig gehört: Am liebsten betrachte ich die Schauspieler meiner Truppe, die ihre Rolle einfach nicht so richtig drauf haben. Die sich unüblich verhalten, die an der falschen Stelle lachen, denen ihre Maske einfach zu oft fast aus dem Gesicht fällt. Denen schaue ich am liebsten zu. Da ist kaum noch etwas von einem Schauspieler- da sind plötzlich Menschen unterwegs.
Da ist der Chefarzt, der statt mit dem Porsche mit dem Fahrrad über die Kreuzung brettert und Passanten grüßt, die Stationsleitung, die einen Patienten zum Abschied in den Arm nimmt. Da ist die Küchenhilfe, die auch mit drei Containern mühelos und mit einem Lächeln über den Flur fährt statt genervt zu gucken. Wenn unsere Stationssekretärin sich an das Bett eines Sterbenden setzt und sich genau die Zeit zum Handhalten nimmt, die wir oft nicht haben.
Ich genieße die tägliche Vorstellung erst dann, wenn schön viele ungeplante Stunts und improvisierte Szenen dazukommen. Wenn sich Angehörige von zwei schwer kranken Patienten kennenlernen und sich gegenseitig unterstützen. Wenn ich einen Patienten frage, ob er ein künstliches Gebiss habe und er seine Prothese ungefragt herausnimmt und mir auf den Schreibtisch legt.
Du bist keine Person- Du bist Du
Vielleicht tut es uns allen mal ganz gut, die vielen Masken im Alltag bewusst zu spüren. Und die eine oder andere Maske mal abzunehmen und durchzuatmen. Denn wir sind nicht eine bestimmte Person, wir spielen sie aber ständig.
Und wenn wir schon schauspielen sollen, dann lasst uns doch möglichst viele Szenen improvisieren. Kein Drehbuch ist so unterhaltsam, dass wir es nachspielen sollten.
Und Dein Leben? Das sollte doch auch lieber verrückt, frei und mit offenem Ergebnis sein, oder? Statt ein gebrauchtes Leben von der Stange zu Ende zu spielen, eine Rolle perfekt auszufüllen- nimm die Maske ab und genieß die frische Luft.
“Sei Du selbst” ist noch nicht weit genug gedacht.
“Sei einfach” trifft es noch besser.
timmsteuber.de
Der Zirkus für die Seele